"Achten Sie auf Ihren Rücken!"

von Lisa Gauch

ANOA-Präsident und Orthopäde Dr. Jan Holger Holtschmit prognostiziert im Zuge der neuen Corona-Beschränkungen und der Pandemie eine starke Zunahme an Wirbelsäulenbeschwerden.Mit seinem Team hat er in den vergangenen Jahren rund 40.000 Rückenschmerz-Patienten behandelt.

Seit dem 2. November gelten deutschlandweit zusätzliche Corona-Regeln, von denen auch der Sport betroffen ist. Schwimmbäder, Fitnesscenter und Yogastudios mussten schließen, der Freizeit- und Amateursportbetrieb wurde weitestgehend eingestellt. Achten Sie jetzt auf Ihren Rücken“, sagt Dr.Jan Holger Holtschmit, Präsident der ANOA (Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akut-Kliniken) und Chefarzt Konservative Orthopädie im Marienhauskrankenhaus St. Wendel. Wir sprachen mit dem Mediziner über die absehbaren Auswirkungen der neuen Corona Regeln auf den Rücken – und wie diese verhindert werden können.

Herr Dr. Holtschmit, massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens sollen im November dazu beitragen, die stark steigenden Corona-Zahlen wieder in den Griff zu bekommen. Wie stehen Sie zu diesen neuen Maßnahmen?

Holtschmit: Als Mediziner sehe ich natürlich die Notwendigkeit, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, damit das Gesundheitssystem nicht noch in diesem Jahr kollabiert. Denn in nahezu allen Kliniken in Deutschland stehen wir vor dem gleichen Problem: Wir haben nicht nur einen Notstand in der Pflege, es fehlen zudem auch qualifizierte Ärzte für die Betreuung unserer Patienten. Angesichts dieser knappen personellen Ressourcen müssen wir natürlich alles tun, damit die Kliniken bei der Behandlung von schwer erkrankten Covid-19-Patienten nicht in absehbarer Zeit an ihre Grenzen stoßen. Oder anders gesagt: wir alle müssen mit vereinten Kräften daran arbeiten, eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern.

Vor genau diesem Hintergrund wurden jetzt Schwimmbäder, Fitnesscenter und weitere Sportstätten geschlossen ...

Holtschmit: Als Orthopäde habe ich natürlich das Wohlergehen meiner Patienten im Blick und es liegt auf der Hand: Wenn Fitnesscenter, Schwimmbäder und andere Einrichtungen schließen, wird das eigene Workout vernachlässigt. Dann leidet der Rücken. Und wir sprechen hier nicht von einem Nischenleiden, sondern von der Volkskrankheit Nummer 1 in Deutschland. In anderen Worten: sechs bis acht Millionen Menschen leiden an chronischen Rückenschmerzen. Zum Glück sind bei diesem Lockdown – anders als im Frühjahr – die medizinischen Einrichtungen, von der Krankengymnastik bis hin zur medizinischen Massage, von den Schließungen ausgenommen. Auf Dauer hilft es mir als Patient mit ernsthaften Beschwerden am Bewegungsapparat allerdings nicht wirklich weiter, wenn ichmich nur auf die nächste Verordnung meiner Krankengymnastik verlasse. Ich muss auch von mir aus aktiv werden!

Was genau empfehlen Sie dann, um im aktuellen Lockdown Light Rückenschmerzen abzuwenden?

Holtschmit: Bewegung! Schließlich heißt unser Bewegungsapparat nicht umsonst so. Wir müssen ihn auch wirklich täglich aktiv halten. Das ist das A und O für die Vermeidung von Rückenschmerzen. Wenn das Fitnesscenter geschlossen hat, gibt es viele andere gute Möglichkeiten, an der eigenen Gesundheit zu arbeiten. Die oft genannten „10.000 Schritte“ am Tag sind dabei eine gute Richtlinie. Doch werden diese gerade in Zeiten von Corona nur noch selten erreicht: Schließlich fehlt, weil viele Menschen nun im Homeoffice arbeiten, plötzlich auch der Weg zum und vom Büro im Tagesablauf. Da hilft nur Gegensteuern und andere Formen der Bewegung suchen.

In anderen Worten: Fahrradfahren im Novemberregen?

Holtschmit: Fahrradfahren ist nicht die ideale Sportart für den Rücken. Dann schon eher Nordic Walking. Aber natürlich liegt es auf der Hand, dass der Herbst dafür eine eher schwierige Jahreszeit ist. Jetzt verlieren wir uns jedoch in Nebensächlichkeiten. Auf den Punkt gebracht: Ich rate meinen Patienten dringend, sich nicht vom November-Blues bzw. treffender gesagt Corona-Bluesanstecken zu lassen, und keinesfalls auf das für das Bewegungssystem so wichtige Training zu verzichten – nur, weil das Schwimmbad nebenan jetzt für einige Wochen geschlossen hat. Das hätte verheerende Auswirkung auf ihre Rückengesundheit. In der Folge des letzten Lockdowns litten viele Patienten, mit denen unsere ANOA-Häuser in Kontakt waren, unter zunehmend starken Rückenbeschwerden. In meiner Sprechstunde in etwa jeder zweite. Das möchte ich gerne verhindern und daher rechtzeitig aufklären, wie wichtig ein konkretes Trainingsprogramm ist.

Ein Trainingsprogramm?

Ja, und zwar eines, das ganz ohne viel Aufwand umsetzbar ist. Zu Hause auf der Matte im Wohnzimmer oder am Schreibtischstuhl im Homeoffice. Mein Tipp: Geben Sie einfach die Stichworte „Rückenübung“ oder „Rückentraining“ im Internet ein, dann finden Sie eine Vielzahl an Programmen, die unter anderem von den Krankenkassen angeboten werden. Nehmen Sie sich die Zeit und wählen Sie einen einfachen Übungsablauf, der Ihnen gefällt. Und beginnen Sie damit, zehn Minuten täglich für Ihren Rücken zu sorgen. Nicht erst in einigen Wochen, sondern sofort. Dann kommen Sie und Ihr Bewegungsapparat gut durch die Pandemie und durch die schwierigen Wintermonate, die noch vor uns liegen. Trotz Homeoffice und Schwimmbadschließungen.

Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Dr. Jan Holger Holtschmit

Dr. Jan Holger Holtschmit (54) ist seit November 2019 Präsident der ANOA (Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akut-Kliniken). Zuvor (2015 bis 2019) war er für den Klinikverbund von mittlerweile 30 Akutkrankenhäusern als Vizepräsident tätig.

Der Mediziner arbeitet zudem als Chefarzt der Abteilung für Konservative Orthopädie am Marienkrankenhaus St. Wendel. Die Abteilung war im April 2020 von der Marienhausklinik St. Josef in Losheim am See nach St. Wendel umgezogen. In der Marienhausklinik St. Josef in Losheim am See war Holtschmit seit 2002 als Chefarzt der Abteilung für Konservative Orthopädie tätig, seit 2015 zudem als Ärztlicher Direktor.

Rund 40.000 Patienten mit Rückenbeschwerden hat der Mediziner in seiner langjährigen Karriere mit seinem Klinik-Team behandelt. Sein Schwerpunkt: die Diagnostik und nicht-operative Behandlung degenerativer und rheumatologischer Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Osteologie, die spezielle Schmerztherapie und die Sportmedizin.

In der akutmedizinischen Abteilung für Konservative Orthopädie in St. Wendel werden vor allem chronifizierungs-gefährdete und chronische Patienten behandelt, die mit ihren Beschwerden oft schon einen langen Leidensweg hinter sich haben.

Ein weiteres Interessengebiet von Jan Holger Holtschmit ist das Therapeutische Reiten. Er ist Präsident des größten Verbandes der Welt für Therapeutisches Reiten, des DKThR. Sportmedizinisch kümmert er sich besonders um Reiter. Er war langjähriges Mitglied des Medical Committees des Weltreiterverbandes FEI. Zuletzt war Dr. Holtschmit für die FEI bei den Paralympics in Rio de Janeiro unterwegs und wird auch bei den Paralympics 2021 in Tokio wieder dabei sein.

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