„Die Pflegepersonaluntergrenzenverordnung macht uns große Sorgen“ - Karl Ehrmann, Vorsitzender der AG Kaufleute der ANOA, im Gespräch
von Lisa Gauch
„Die Pflegepersonaluntergrenzenverordnung macht uns große Sorgen“ Karl Ehrmann, Vorsitzender der AG Kaufleute der ANOA, im Gespräch
Oberwesel, 1. Juli 2022
Ein wichtiges Anliegen der Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akutkliniken (ANOA) ist es, eine stetige Qualitätsverbesserung bei der multimodalen Komplexbehandlung von Patientinnen und Patienten zu erzielen. Hierfür bildet der regelmäßige Austausch in den Berufsgruppen – Fachärzte, Psychotherapeuten, Pflegekräfte, medizinische Therapeuten sowie Kaufleute – eine zentrale Basis; schließlich spiegeln diese Fachrichtungen die interdisziplinäre Arbeit der ANOA in den Kliniken wider. Die Aktivitäten in den Berufsgruppen sind nun im ersten Halbjahr 2022 weiter ausgebaut worden: Erstmals seit Beginn der Pandemie kam die Berufsgruppe der Kaufleute in Frankfurt am Main zusammen. Wir sprachen mit Karl Ehrmann, dem Vorsitzenden der AG Kaufleute und Geschäftsführer der KMT Hamm.
Herr Ehrmann, auf den ersten Blick wirkt es überraschend, dass sich Kaufleute aus ANOA-Kliniken zusammensetzen, um an der weiteren Optimierung des seit 20 Jahren bewährten ANOA-Konzeptes mitzuwirken. Wäre das nicht primär Aufgabe Fachärzte sowie des medizinischen Personals?
Ehrmann: Keinesfalls! Schließlich zeichnet sich die ANOA dadurch aus, dass in interdisziplinären Teams behandelt und dabei gemeinsam nach Lösungen im Sinne der Patienten gesucht wird. Diese Form der Zusammenarbeit ist deutschlandweit einmalig und schließt letztendlich natürlich auch die Kaufleute mit ein. Denn bei den Kaufleuten – und damit auch bei den Geschäftsführern der Kliniken – laufen alle Fäden zusammen, die letztendlich die gute Arbeit in den Teams garantieren oder optimieren.
Können Sie hier Beispiele nennen?
Da kann ich sehr vielfältige Beispiele nennen: Von der Zusammenarbeit mit den Kostenträgern, die in einigen Bundesländern sehr gut, in anderen wieder schleppend verläuft, bis hin zum Thema der geeigneten Software, die wir zum Aufbau entsprechender digitaler Infrastrukturen in unseren Kliniken benötigen. Ein Aspekt, der uns Kaufleute zurzeit besonders umtreibt, ist der Fachkräftemangel. Egal ob wir nun in einer Klinik in Bayern, in Mecklenburg-Vorpommern oder in Berlin arbeiten: überall ist der aktuelle Fachkräftemangel ein großes Thema. Eines, das wir lösen müssen, damit unsere Teams auch mittelfristig noch die versierten Pflegekräfte oder die Physiotherapeuten vorhalten können. Personal, das die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten unumgänglich ist.
Und über diese Fragen sprechen Sie in der AG Kaufleute?
Richtig. Ich habe, ehrlich gesagt, anfänglich gezögert, mich als Leiter der AG aufstellen zu lassen. Schließlich gibt es zahlreiche rein kaufmännische Themen, die meines Erachtens nicht sinnvoll sind, in dieser Gruppe diskutiert zu werden. So sind die Verhandlungen mit den Sozialleistungsträgern von Bundesland zu Bundesland verschieden, die Kliniken überall anders vergütet und die Tarifverträge nicht einheitlich. Ein auf die Manuelle Therapie spezialisiertes Haus wie die KMT Hamm mit 154 Betten hat zudem ganz andere Rahmenbedingungen als eine Abteilung Konservative Orthopädie einer Klinik beispielsweise in einem SANA-Klinikkonzern. Unsere Kliniken sind dementsprechend auch nicht vergleichbar. Mir war es daher wichtig, dass wir uns nicht detailverliebt in Zahlen verlieren, sondern andere Themen auf die Agenda setzen. Themen, die uns alle gleichermaßen voranbringen und somit auch unseren Patientinnen und Patienten helfen.
Wie zum Beispiel das Thema des Fachkräftemangels?
Ja. Darüber haben wir kürzlich in der AG diskutiert und das war ausgesprochen zielführend:
Von der Mitarbeiterbindung, über die Auszahlung von Prämien in der Pflege bis hin zur erfolgreichen Rekrutierung ausländischer Fachkräfte haben wir Erfahrungen ausgetauscht, die letztendlich allen helfen. Das Schöne dabei: Unsere 32 Kliniken sind über das gesamte Bundesgebiet verstreut, daher gibt es auch keinerlei Konkurrenzdenken. Wir können vielmehr offen und transparent im Gespräch sein und von den Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen profitieren. Sowohl von den positiven als auch von den negativen.
Gibt es denn aktuell negative Erfahrungen, die Sie an dieser Stelle nennen könnten?
Nicht unbedingt Erfahrungen, eher ein Thema, das uns allen schwer im Magen liegt, dem neben dem stets akuten Thema des Fachkräftemangels. Und zwar betrifft dies die neue Pflegepersonaluntergrenzenverordnung (PPUGV). Diese bereitet uns Sorgen und stellt die Kliniken vor große Herausforderungen. Denn damit, also durch die Ausweitung des pflegeintensiven Bereiches, werden operativ versorgte Patienten denen konservativ-orthopädisch behandelten Patienten gleichgestellt. Das ist natürlich absolut inadäquat. Ein Beispiel: In unserer Klinik müssen sich die Patienten tagtäglich bewegen, sind regelmäßig gefordert. Sie gehen zum Essen in den Speisesaal oder zu den Therapeuten in die entsprechenden Räume. Bewegung ist Teil des ANOA-Konzeptes. Dabei spielt der ganzheitliche Behandlungsansatz eine wesentliche Rolle: Wir wissen, dass auch die Psyche Einfluss auf das Krankheitsbild des Patienten hat. Und meiner Psyche geht es in der Regel besser, wenn ich mich auch bewege, mich mit anderen Patientinnen und Patienten austausche und sehe und gesehen werde. Daher werden die Patientinnen und Patienten bei uns dazu motiviert, dies auch zu tun.
In anderen Worten: Ihre Patienten verbringen nicht die meiste Zeit im Bett und müssen rund um die Uhr gepflegt werden. Anders als Patienten, die beispielsweise gerade an der Bandscheibe operiert wurden.
So ist es. Zusammengefasst gesagt: Nicht nur, dass der Markt ohnehin leergefegt ist und Pflegekräfte daher an anderen Stellen in der Patientenversorgung dringender gebraucht werden – zur Versorgung der größtenteils sehr selbstständigen Patientenklientel in den ANOA-Kliniken wird im Grundsatz kein „Mehr“ an Pflege gebraucht. Pflege muss anders aufgestellt sein – als Pflegefachkraft und direkter Ansprechpartner, um sich auch den sonstigen persönlichen und den emotionalen Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten im Rahmen des stationären Aufenthaltes annehmen zu können!
Erschwert wird die Situation in den Kliniken dadurch, dass dort – angelehnt an die Bedürfnisse der Patienten von multimodalen Komplexbehandlungen – Dienstzeitmodelle bestehen, die nicht mit der PPUGV zusammenpassen. Dies gilt insbesondere für die Darstellung der Gesamtschichten in der Pflege. Teilweise weicht die IST-Besetzung zum Beispiel von Nachtschichten so stark von der SOLL-Besetzung ab. Dies führt natürlich zu Schwierigkeiten; denn für die Nichteinhaltung der Pflegepersonaluntergrenzen haben Kliniken mit Sanktionen zu rechnen. Eines unserer Häuser spricht von einer erwarteten Sanktionszahlung in Höhe von 20.000 Euro im Quartal. Ein Unding.
Ergänzend hierzu möchte ich noch betonen, dass wir in den ANOA-Kliniken in allen Abteilungen neben der Pflege auch einen hohen Personalaufwand im Bereich der Therapeuten – also Krankengymnastik, Masseure, Sporttherapeuten usw. – haben, so dass wir im Vergleich zu operativen Abteilungen letzten Endes sogar über mehr Personal am Patienten verfügen. Dem wird die PPUGV jedoch in keiner Weise gerecht.
Wie reagiert die ANOA darauf?
Das ANOA-Präsidium hat sich mit dem Rückhalt ihrer 32 Mitgliedskliniken bereits vor Monaten gegen die Vereinbarung zur Pflegepersonaluntergrenzenverordnung positioniert und unter anderem im engen Schulterschluss mit der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, also der DGOU, eine Stellungnahme an die Politik abgestimmt.
Und wie hat die Politik reagiert?
Leider gar nicht. Einige Kliniken haben daher nun den Klageweg beschritten oder denken darüber nach, diesen Weg zu gehen. In der AG Kaufleute haben wir darüber diskutiert, möglicherweise eine Sammelklage, stellvertretend für alle ANOA-Mitgliedskliniken, einzureichen. Diese Maßnahme lassen wir derzeit prüfen. Hier ist es wichtig, aus den jeweiligen Situationen der ANOA-Mitgliedshäuser Nutzen und Informationen zu erhalten.
Der persönliche Austausch und das Team Work, das ist es, was unsere Arbeit in der ANOA wertvoll macht. Der nächste Termin der AG Kaufleute wird dann im Herbst 2022 stattfinden.
Kontakt
Geschäftsstelle ANOA, Lisa Gauch
Hospitalgasse 11
55430 Oberwesel
Telefon: 06744/712-156
Über ANOA
Die ANOA (Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akutkliniken) ist eine medizinisch-wissenschaftliche Vereinigung von mittlerweile 32 Akutkrankenhäusern, die im nicht operativen orthopädisch-unfallchirurgischen, manualmedizinischen und schmerztherapeutischen Bereich tätig sind. Patienten mit komplexen und multifaktoriellen Erkrankungen des Bewegungssystems sowie mit chronischen Schmerzerkrankungen benötigen multidisziplinäre und multimodale Diagnostik- und Therapiekonzepte. Im Mittelpunkt des ANOA-Konzeptes stehen daher individualisierte befundorientierte Behandlungen auf neuroorthopädischer Grundlage unter Einbeziehung manualmedizinisch-funktioneller, schmerzmedizinischer und psychotherapeutischer Methoden.
Die ANOA ist der Auffassung, dass nur im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung langfristig wirksame Therapiekonzepte umgesetzt werden können. Dazu hat die ANOA klinische Behandlungspfade mit besonderen Behandlungsschwerpunkten entwickelt. Das ANOA Konzept basiert auf den neuesten medizinischen Erkenntnissen und ist wissenschaftlich überprüft. Die Prozess- und Ergebnisqualität im ANOA Konzept wird kontinuierlich multizentrisch evaluiert. Mit dem 2016 entwickelten ANOA-Zertifikat können Kliniken ihre Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität nachweisen und sichern.