„Die tagesklinischen Behandlungen lassen sich gut finanzieren“
von Lisa Gauch

Teilstationäre Versorgung im Aufwind: Dr. Kay Niemier über die Zukunft der Schmerztherapie in ANOA-Kliniken
Oberwesel, den 24. März 2025 Die Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akutkliniken (ANOA) hat Ende 2024 einen bedeutenden Schritt vollzogen: Die teilstationäre Versorgung wurde in ihre Satzung aufgenommen. Inzwischen bietet bereits rund ein Viertel der ANOA-Kliniken diese Behandlungsform an – mit steigender Tendenz. Um mehr über die Hintergründe, die Synergien zwischen teil- und vollstationärer Behandlung sowie die Zukunftsperspektiven zu erfahren, sprachen wir mit Dr. Kay Niemier. Als Leiter der AG Teilstationäre Versorgung der ANOA und Chefarzt am Westmecklenburg Klinikum in Hagenow ist er ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet.
Herr Dr. Niemier, seit mehr als zwanzig Jahren arbeiten die Kliniken der ANOA erfolgreich stationär und haben seitdem mehr als ... Patientinnen und Patienten behandelt. Mit sehr positiven Ergebnissen, wie Studien belegen. Die teilstationäre Versorgung wurde in der Vergangenheit kritisch diskutiert, nun auf der letzten Jahresversammlung der ANOA mit dem OPS 8-91c aber in die Satzung der ANOA aufgenommen. Ein starker Durchbruch. Wie kam es dazu?
Niemier: Ja, in der Tat: es ist ein echter Durchbruch und das geht natürlich nicht über Nacht. Derart große Entscheidungen brauchen Zeit und müssen umfassend besprochen und untersucht werden, bevor man sie dann trifft. Der erste relevante Schritt dafür, dass die teilstationäre Versorgung Teil des ANOA-Konzeptes wird, war, dass wir zunächst untereinander darüber reden konnten. Dieser offene Austausch hat dazu geführt, dass teilstationär heute in der Satzung mit enthalten ist als ein neues Behandlungssetting im Rahmen des ANOA-Konzeptes. Alles in allem hat die sehr konstruktive Diskussion darüber rund drei Jahre lang gedauert. Hierbei haben schließlich auch mehrere Aspekte die letztliche Entscheidung mit begünstigt: Vor allem auch das politische Umfeld, das mehr und mehr deutlich gemacht hat, dass stationäre Behandlungen weniger gewollt sind, da teuer. Die Ambulantisierung ist derzeit ein riesiges, allgegenwärtiges Thema.
Was spielte noch eine Rolle bei der Entscheidung Ihres Verbunds?
Das tagesklinische Konzept ist keine Beschneidung, sondern schlichtweg eine Bereicherung im Angebot der ANOA, zu dieser Auffassung sind wir schließlich gekommen: Denn nicht wenige Patientinnen und Patienten wollen zu Hause bleiben und trotzdem eine entsprechend hochwertige Behandlung bekommen – aber eben ohne Übernachtung im Krankenhaus. Das Konzept ermöglicht es unseren Kliniken, auf diese Bedürfnisse einzugehen und dabei die Lebensrealitäten unserer Patienten in den Fokus zu rücken: kleine Kinder, Haushalt. Hier kommt als nächstes auch der therapeutische Aspekt mit ins Spiel: In manchen Fällen macht es Sinn, Patientinnen und Patienten für ihre wirksame Behandlung aus ihrem Lebensalltag herauszunehmen. In manchen Fällen ist das aber kontraproduktiv: Patienten müssen auch Dinge, die sie in der Klinik lernen, umsetzen können im Alltag. Das geht im stationären Setting nicht. Im teilstationären Setting hingegen kann man zum Beispiel erlernte neue Verhaltensweisen zeitnah integrieren.
Das klingt überzeugend. Lässt sich das denn so auf alle Schmerzpatientinnen und -patienten übertragen?
Ganz sicher nicht. Bei der Entscheidung, die teilstationäre Versorgung nun auch in die Arbeit der ANOA zu integrieren, geht es uns primär auch um individualisierte Medizin. Wenn wir dafür Patienten in Subgruppen unterteilen, bin ich ganz vorne mit dabei. Wichtig ist es doch, im Blick zu haben, was genau der Patient braucht.
Und wie genau kann man sich die Subgruppen vorstellen?
Nun, es ist natürlich wichtig, dass Schmerzpatientinnen und -patienten nicht pauschal, sondern vielmehr subgruppengerecht behandelt werden. So bedürfen Menschen, die multimorbide sind oder psychische Begleitproblematiken haben, natürlich einer stationären Komplexbehandlung. Gleichzeitig gibt es aber auch Patienten ohne Begleiterkrankungen und diese können nach ANOA hervorragend und auf dem höchsten Standard teilstationär behandelt werden – und dann, wie gesagt, abends wieder zu ihren Familien gehen und zu Hause schlafen. Ein weiterer wichtiger Aspekt: wir haben 120 Therapiestunden in der Tagesklinik. Damit kann ich ganz gezielt andere Behandlungsintensitäten ansetzen, die unsere stationären Patienten gar nicht können. Nochmal auf den Punkt gebracht: Wer nicht drei Meter laufen kann oder beispielsweise unter schweren psychischen Begleiterkrankungen leidet, kann nicht in die Tagesklinik.
Wenn all‘ dies nicht auf mich zutrifft, ich also „fit genug“ bin für die tagesklinische Behandlung, kann ich dann dort wirklich mit ähnlich guten Behandlungserfolgen rechnen wie in der jahrzehntelang erfolgreich angewandten stationären Behandlung nach ANOA?
Ja, das können Sie. Tagesklinische Konzepte sind medizinisch hervorragend und auch wissenschaftlich ist inzwischen belegt, dass sie sehr erfolgreich sind. Vor allem auch wegen der höheren Intensitäten im tagesklinischen Kontext lässt sich sagen: tagesklinische Konzepte sind in jedem Fall gleichermaßen überzeugend wie die stationären. Für bestimmte Patienten sind tagesklinische Behandlungen der stationären Therapie sogar überlegen.
Von einer „Billigversion“ des ANOA-Konzeptes würden Sie demnach bei der teilstationären Versorgung nicht sprechen?
Ganz vehement: nein! Beim tagesklinischen Konzept handelt es sich vielmehr – wie zuvor beschreiben – um eine andere Behandlungsstrategie für eine andere Patientengruppe als im stationären Behandlungssetting. Eine Patientengruppe, bei der wir in der tagesklinischen Behandlung sehr hohe Erfolgsraten erzielen können. Dieser Gedanke hat sich glücklicherweise mehr und mehr in unseren Kreisen durchgesetzt. Dem vorausgegangen ist ein jahrelanger Kampf, der beispielsweise auch in St. Goar hart geführt wurde.
Wie sind Sie denn ganz konkret vorgegangen, um diese Entwicklung „pro teilstationär“ voranzutreiben?
Wir haben uns in unserer AG Teilstationäre Versorgung umfassend mit dieser ergänzenden Versorgungsmöglichkeit Schmerzpatienten beschäftigt und klare Definitionen erstellt hinsichtlich „was unterscheidet– sowohl medizinisch als auch inhaltlich und organisatorisch – die ambulante Behandlung von der stationären von der teilstationären von der Reha und welcher Patient wo genau im für ihn passenden Setting ist.
Und danach?
Danach haben wir geschaut: Was genau machen die Häuser, die bereits erfolgreich teilstationär arbeiten. Dabei stellten wir dann fest: die medizinischen Anwendungen, die Konzepte, waren durch die Bank von einem sehr ähnlichen Geist getragen. Also vom ähnlichen medizinisch-wissenschaftlichen Hintergrund. Danach haben wir dann daran angelehnt Qualitätskriterien erarbeitet, die als Standard natürlich sehr wichtig sind für die ANOA
Sprechen wir über die Wirtschaftlichkeit: Rechnet sich die teilstationäre Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Beschwerden am Bewegungssystem denn überhaupt für Kliniken?
Niemier: Ein wichtiger Punkt: Im vergangenen Jahr 2024 haben wir sehr umfassend in Richtung Finanzierung geschaut und dabei ganz genau betrachtet, wie das teilstationäre Angebot die jeweiligen Kliniken finanziert. Herausgestellt hat sich, dass die befragten Geschäftsführungen durchaus zufrieden waren mit den wirtschaftlichen Ergebnissen. Der Tenor war: die Behandlungen lassen sich gut finanzieren, auch wenn wir dabei nicht reich werden.
Das heißt: alles in allem gute Voraussetzungen ...
Durchaus. Aber unsere Arbeit geht natürlich weiter: Bis Ende dieses Jahres wollen wir das Qualitätssiegel ANOA-Cert um die Teilstationäre Versorgung ergänzen und weiterentwickeln, daran sitzen wir gerade. Der nächste relevante Schritt wäre dann, noch eine eigene Abrechnungsprozedur für die teilstationäre Behandlung – in Anlehnung an den von der ANOA erarbeiteten OPS 8-977 – zu entwickeln.
Wäre das dann für Sie DAS Wunsch-Szenario?
Zumindest wären wir dann auch für den Bereich der teilstationären Versorgung unserer Patientinnen und Patienten mit Beschwerden am Bewegungssystem optimal aufgestellt. Allerdings noch nicht meinem Wunsch-Szenario entsprechend. Davon sind wir in der deutschen Versorgungslandschaft noch ein gutes Stück entfernt. Ein großes Problem ist in meinen Augen die fehlende komplexe Versorgung von Patienten im ambulanten Setting. Oder in anderen Worten: Ein Patient, der gesundheitlich auf einem guten Weg ist und an genau diesem Punkt von uns entlassen wird, darf nicht in ein „Versorgungsloch“ fallen. Er sollte vielmehr in ein intensives ambulantes Behandlungsprogramm übernommen werden. Zusammengefasst: wir brauchen komplexere Versorgungsangebote im ambulanten Setting!
Nochmal zurück zur teilstationären Behandlung: Wie sehen Sie die Entwicklung dieser in den nächsten fünf Jahren?
Niemier: Die überwiegend stationäre Versorgung, die derzeit noch von der Mehrzahl unserer Kliniken angeboten wird, wird sich zunehmend in Richtung teilstationäre Behandlung entwickeln, da bin ich überzeugt. Immer mehr Kliniken integrieren dieses Versorgungsangebot. Aktuell bieten neun unserer 37 ANOA-Kliniken die teilstationäre Behandlung an. Zusätzlich zu dieser Entwicklung gehe ich davon aus, dass wir in Zukunft auch mehr polymorbide Patienten in der Tagesklinik behandeln werden. Dazu müssen wir dann die Therapie zeitlich strecken: also die 120 Stunden Behandlungsdauer von vier Wochen auf bis zu zehn Wochen verlängern, um Patientinnen und Patienten eine längere Genesungszeit zu ermöglichen. Darüber hinaus werden die Grenzen zwischen ambulanter, teilstationärer und stationärer zunehmend verschwimmen. Insgesamt wird sich ein interdisziplinär aufgestelltes Team, das Patientinnen und Patienten über einen längeren Zeitraum betreut und begleitet – wie es die ANOA-Kliniken bereits seit gut 20 Jahren praktizieren – als das Erfolgskonzept der Zukunft erweisen.
Vielen Dank für Ihre aufschlussreichen Einblicke, Herr Niemier!
Foto: Dr. Kay Niemier / ©: LUP-Klinikum Helene von Bülow Hagenow