Rückenschmerz ist ein großes Problem

Dr. Wolfram Seidel, Präsident der ANOA und Mitherausgeber des jetzt erschienenen Buches „Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems“ im Gespräch

Herr Dr. Seidel, das neue „ANOA-Konzeptbuch“ wurde vor wenigen Tagen auf der Jahrestagung der Vereinigung Süddeutscher Orthopäden und Unfallchirurgen e.V. in Baden-Baden der Öffentlichkeit vorgestellt. Was hat Sie und die anderen fünf Mitherausgeber dazu veranlasst, dieses komplexe Fachbuch – unter Mithilfe von 28 weiteren Autoren – zu erstellen und zu veröffentlichen?

Dr. Seidel: Ursprünglich hatten wir angedacht, zum Thema „Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems“ ein Manual mit praktischen Anleitungen und Empfehlungen für die Umsetzung im Krankenhausbetrieb gemäß des ANOA-Konzeptes zu erstellen. Schlussendlich ist das jetzt vorliegende Buch um einiges umfangreicher: Es ist ein 446-seitiges Fachbuch geworden, das die konservative Orthopädie als strukturierte Herangehensweise für Patienten beschreibt, welche nicht monomodal sondern multifaktoriell behandelt werden müssen. Ziel war es, die nichtoperative Behandlung in ihrer ganzen Komplexität zu veranschaulichen und darzustellen. 34 Autoren – wie zum Beispiel renommierte Ärzte, Therapeuten, Sportlehrer und Psychologen – haben engagiert an dem Buch mitgearbeitet und somit dazu beigetragen, dieses Ziel zu erreichen.

Sie haben das ANOA-Konzept angesprochen, das in Teil III Ihres neuen Buches ausführlich vorgestellt wird. Was ist das Besondere an diesem Konzept?

Dr. Seidel: Ganz eindeutig: die klare Orientierung am Patientenproblem. Erstmalig finden – was außerordentlich wichtig ist – mit Hilfe des ANOA-Konzeptes bei der Untersuchung sowie der Behandlung des Patienten im Krankenhaus alle Ursachen und Einflussfaktoren für das aktuelle Krankheitsbild Berücksichtigung. Schließlich geht es hierbei um Betroffene, die ein multifaktorielles Krankheitsbild haben und dementsprechend ist natürlich auch eine multifaktorielle Herangehensweise unumgänglich. Im Mittelpunkt des ANOA-Konzeptes stehen daher individualisierte befundorientierte Behandlungen auf neuroorthopädischer Grundlage insbesondere unter Einbeziehung manualmedizinisch-funktioneller, schmerzmedizinischer und psychotherapeutischer Methoden.

Vom ANOA-Konzept zurück zum übergeordneten Thema „konservative Orthopädie“: In Ihrem neuen Fachbuch wird dargelegt, dass die operative Orthopädie in den letzten 15 bis 20 Jahren eine immense Entwicklung genommen hat, während die konservative Orthopädie, insbesondere die Krankenhausbehandlung, in den Hintergrund gedrängt wurde. Können Sie diese Entwicklung nochmals erläutern?

Dr. Seidel: In der Tat wird die nichtoperative Therapie nach wie vor von der operativen Therapie in den Hintergrund gedrängt. Zugleich stellen wir aber auch fest, dass die konservative Orthopädie gerade in letzter Zeit immer stärker wahrgenommen und nachgefragt wird. Ich denke, diese Entwicklung lässt sich am besten anhand aktueller Statistiken veranschaulichen: Im Jahr 2007 wurden rund 450.000 Krankenhausbehandlungen für Erkrankungen am Bewegungssystem durchgeführt, 2015 waren es bereits 611.000. Das zeigt erst einmal, dass der Bedarf an Behandlungen in den letzten Jahren gestiegen ist – und zwar um 34 Prozent. Wie aber wurde den betroffenen Patienten genau geholfen? Wir wissen zum Beispiel, dass viele Rückenschmerzpatienten oft nur kurzzeitig im Krankenhaus sind. Zur akuten Symptomlinderung. Zudem werden sie sehr häufig nicht in Fachabteilungen behandelt. Somit wird den Patienten, selbst wenn eine chronische Erkrankung vorliegt, meist nur kurzfristig geholfen und sie müssen nach einiger Zeit wiederkommen. Wir nennen das den Drehtüreffekt. Es fehlt die multimodale Untersuchung und interdisziplinäre Komplexbehandlung. Lediglich ca. 70.000 Patienten bundesweit werden aktuell mit einer multimodalen Schmerztherapie behandelt. Diese Therapie ist auch Bestandteil des ANOA-Konzeptes. Die uns vorliegenden Zahlen machen deutlich, wie stark der Bedarf an einer komplexen Schmerztherapie gestiegen ist: Im vergangenen Jahr wurden allein in den ANOA-Kliniken 25.000 Patienten nach unserem Konzept behandelt – fünf Jahre zuvor waren es noch 8.000. Die Ausgangsbasis ist hier natürlich sehr niedrig. Aber ich denke, die Zahlen zeigen den Trend und machen zudem deutlich, dass für die Komplexbehandlung im Krankenhaus noch ganz viel Luft nach oben besteht.

Ihre Zahlen machen deutlich: Immer mehr Menschen lassen sich aufgrund ihrer Schmerzen im Krankenhaus behandeln. Warum leiden heute so viele Menschen unter derart starken Schmerzen und warum ist das Thema „Schmerz“ so komplex, dass es auf 446 Seiten beschrieben werden muss?

Dr. Seidel: Das Thema „Schmerz“ bzw. „Rückenschmerz“ ist in unserer Gesellschaft ganz eindeutig ein großes Problem. Die Gründe hierfür sind sehr vielfältig: so spielen zum Beispiel Stress oder auch eine verminderte körperliche Belastung in unserem Alltag eine wesentliche Rolle. Davon ist fast jeder betroffen. Statistiken zeigen, dass etwa 95 Prozent von uns allen irgendwann einmal im Leben unter starken Rückenschmerzen leiden. Zum Glück gibt es hier eine hohe Selbstheilungstendenz. Immerhin noch zehn Prozent der Betroffenen entwickeln jedoch eine chronische Erkrankung und um eben diese rechtzeitig zu verhindern, braucht es eine frühzeitige Untersuchung aller Ursachen und Einflussfaktoren. Man darf dabei nicht vergessen, dass beim Thema Schmerz ein Aspekt ganz wesentlich ist: Der Schmerz ist nichts Statisches, sondern er entwickelt sich in der Regel prozesshaft. Dieser Prozess sowie die Faktoren, die hierbei eine wesentliche Rolle spielen können, sind in unserem Buch ausführlich beschrieben. Schließlich reagiert der menschliche Körper systemisch, weshalb es eine zentrale Basis des ANOA-Konzeptes ist, dass die Erkrankung des Patienten auch systemisch betrachtet und eine Aktualitätsdiagnose erstellt wird. Nur dann kann der Patient auch befundgerecht behandelt werden – und bei einem multifaktoriell bedingten Krankheitsbild eine interdisziplinäre multimodale Therapie erhalten, die ihm nachhaltig hilft.

Was ist das Ziel, das Sie mit der Herausgabe dieses Buches verfolgen bzw. welche zukünftige Entwicklung erhoffen Sie sich?

Dr. Seidel: Es ist uns wichtig, mit Hilfe des jetzt erschienenen Buches zum Konzept das Bewusstsein zu schärfen für die Komplexität von Schmerzerkrankungen am Bewegungssystem. Zudem erhoffen wir uns dadurch, dass wir die nachhaltigen Möglichkeiten nichtoperativer Verfahren anschaulich darlegen, eine grundlegende Verbesserung der Versorgungssituation im Krankenhaus in der Zukunft. Meine persönliche Vision ist es, dass sich unser ANOA-Konzept auf noch breiterer Ebene im Klinikbereich durchsetzt und dann auch in der ambulanten Betreuung verstärkt komplexe und sinnvolle Therapien umgesetzt werden. Damit wäre sehr vielen Patienten nachhaltig geholfen!

Das 446-seitige Buch erscheint im Wissenschaftsverlag De Gruyter und ist im Fachbuchhandel zum Preis von 99,95 Euro erhältlich.
Bestellungen auch unter: https://www.degruyter.com/view/product/476232?format=G

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Über ANOA
Die ANOA (Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer Akut-Kliniken) ist eine medizinischwissenschaftliche Vereinigung von mittlerweile 28 Akutkrankenhäusern, die im nicht operativen orthopädisch-unfallchirurgischen, manualmedizinischen und schmerztherapeutischen Bereich tätig sind. Patienten mit komplexen und multifaktoriellen Erkrankungen des Bewegungssystems sowie mit chronischen Schmerzerkrankungen benötigen multidisziplinäre und multimodale Diagnostik- und Therapiekonzepte. Im Mittelpunkt des ANOA-Konzeptes stehen daher individualisierte befundorientierte Behandlungen auf neuroorthopädischer Grundlage unter Einbeziehung manualmedizinisch-funktioneller, schmerzmedizinischer und psychotherapeutischer Methoden. Die ANOA ist der Auffassung, dass nur im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung langfristig wirksame Therapiekonzepte umgesetzt werden können. Dazu hat die ANOA klinische Behandlungspfade mit besonderen Behandlungsschwerpunkten entwickelt. Das ANOA Konzept basiert auf den neuesten medizinischen Erkenntnissen und ist wissenschaftlich überprüft. Die Prozess- und Ergebnisqualität im ANOA Konzept wird kontinuierlich multizentrisch evaluiert. Mit dem 2016 entwickelten ANOA-Zertifikat können Kliniken ihre Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität nachweisen und sichern.

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(Copyright des Fotos: Sana BB/Lopata)

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