„Die Pandemie hat das Bewusstsein zur Psychotherapie verändert“

von Lisa Gauch

Seit 2003 in der Schmerztherapie aktiv: Psychotherapeutin Astrid Jungblut im Gespräch

Psychotherapeutin Astrid Jungblut arbeitet seit zwanzig Jahren in der Schmerztherapie.

Oberwesel, den 10. November 2023 Die Psychotherapie ist integraler Bestandteil des multimodalen ANOA-Konzeptes für die Behandlung multifaktorieller Erkrankung des Bewegungssystems mit hoher Krankheitsintensität. Somit findet diese Therapieform – ebenso wie therapeutische Verfahren der Fachgebiete Orthopädie und Unfallchirurgie, Manuelle Medizin, Schmerzmedizin, Rheumatologie, Naturheilverfahren, Pflege, Physiotherapie sowie Trainingstherapie – tagtäglich Anwendung in den Kliniken der Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akutkliniken (ANOA). Die Bedeutung der Psychotherapie wurde von Schmerzpatientinnen und -patienten in der Vergangenheit oftmals unterschätzt. Doch im Zuge der Pandemie hat sich dies geändert, wie Astrid Jungblut, Leiterin der AG Psychotherapie der ANOA, beschreibt. Wir sprachen mit ihr über die Arbeit an einer ANOA-Klinik, das Zusammenspiel von Schmerz und Psyche und über post-pandemische Erkenntnisse.  

Frau Jungblut, Sie sind seit zwanzig Jahren in der Schmerztherapie tätig und seit 2017 als psychologische Psychotherapeutin mit dem Spezialgebiet spezielle Schmerzpsychotherapie in der Elisabeth-Stiftung des DRK Birkenfeld angestellt: Welche Entwicklungen waren für Sie in den letzten Jahren die eindrücklichsten?  

Astrid Jungblut: Das lässt sich schnell beantworten: Ganz eindeutig die Entwicklungen, die durch die Pandemie verursacht wurden. In den Jahren zuvor waren wir immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert worden und die Patienten fragten uns: „Was soll ich denn bei Ihnen, ich hab’ Rücken und nichts am Kopf.“ Dies erforderte in der Regel erhebliche Aufklärungsarbeit bei unserer Arbeit mit Schmerzpatientinnen und Schmerzpatienten. Mit der Coronapandemie gab es jedoch einschneidende Veränderungen: Die Bedürftigkeit nach psychotherapeutischer Unterstützung hat noch einmal deutlich zugenommen, da die Jahre der Pandemie viele zusätzliche Belastungen mit sich gebracht haben – finanzielle Einbußen, die Sorge um den Arbeitsplatz, Einsamkeit, Angst vor einer Ansteckung. Alles Faktoren, die viele Menschen vor zusätzliche Herausforderungen gestellt haben und die nicht selten Spuren hinterlassen haben. Sowohl physische als auch psychische. Das spüren wir Psychotherapeuten in unseren Kliniken deutlich: Immer mehr Menschen kommen mit Eingangsdiagnosen und Vorbehandlungen zu uns und die Beeinträchtigungsschwere hat tatsächlich zugenommen. Das wirkt sich auch unmittelbar auf unsere Arbeit aus. Heute müssen wir unser Unterstützungsangebot nicht mehr begründen.  

Das bedeutet, Schmerzpatientinnen und -patienten sind aufgeklärter als in früheren Jahren?  

Astrid Jungblut: Ja, das kommt noch hinzu. Durch die Psychoedukation, die mittlerweile überall und vor allem auch in den Kliniken stattfindet, verfügen Patientinnen und Patienten inzwischen über ein ganz anderes Wissen. Mit der höheren Aufklärung einher geht, dass die Akzeptanz zur Psychotherapeutischen Behandlung stetig steigt. Dadurch sind viele Menschen deutlich aufgeschlossener als in der Vergangenheit. Man sieht das unter anderem daran, wie hoch die Wartezeiten bei den ambulanten Psychologen und Psychotherapeuten ist: enorm hoch. Kurz gesagt: Unsere Arbeit wird – vor allem in unserer post-pandemischen Zeit – gewünscht und gezielt nachgefragt.  

Das heißt, Sie müssen nicht mehr jedem erklären, dass Schmerz und Psyche miteinander unmittelbar in Verbindung stehen ...  

Astrid Jungblut: Nicht mehr in dem Maße wie früher. Mittlerweile versteht nahezu jeder, dass eine chronische Schmerzerkrankung Einfluss auf alle Lebensbereiche hat. Durch den allgegenwärtigen Schmerz eines Patienten verändern sich der Beruf, das Privatleben, der Alltag. Sämtliche Bereiche sind eingeschränkt und das Leben wird in vielerlei Hinsicht beschwerlicher, da der Schmerz in fast allen Lebensbereichen präsent ist. Je nachdem, wo genau die Schmerzen lokalisiert sind, werden beispielsweise selbst das Anziehen oder die Körperpflege schwierig. Das hat dann in der Regel auch Auswirkungen auf die Psyche eines Patienten.  

Die 33 Mitgliedskliniken der ANOA haben sich auf die interdisziplinären Komplexbehandlungen multifaktorieller Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems spezialisiert, wobei die ganzheitliche Betrachtung für die Erarbeitung einer nachhaltig wirksame Behandlungsstrategie im Vordergrund steht. Welche Rolle spielt die Psychotherapie im Kontext dieser Behandlungsstrategie?  

Astrid Jungblut: Nun, im Rahmen der Behandlung nach dem ANOA-Konzept gehen wir sehr fundiert vor. Wir fragen: Was hat der Patient für ein Krankheitsmodell? Wie ist es zu seinem Schmerz gekommen? Wenn bereits eine Chronifizierung vorliegt, reicht eine unimodale Behandlung nicht aus. Dann ist es ganz besonders wichtig, die Psyche des Patienten mit in die Therapie einzubeziehen. Herauszufinden, wie der Patient die eigenen Schmerzen bewertet, also, wie er mit seinen Schmerzen umgeht. Zudem sind natürlich auch zwei weitere Bereiche zu betrachten: der körperliche Anteil, also die biologische Voraussetzung des Patienten, und der soziale Kontext, in welches System ist er eingebettet? Nur wenn wir diese drei Aspekte – Psyche, körperlicher Anteil und sozialer Kontext – zusammen anschauen, kann der Schmerz an der Wurzel gepackt und dem Patienten nachhaltig geholfen werden.  

Wie können Sie als behandelnde Psychotherapeutin dazu beitragen, dass genau das geschieht und der Schmerz ‚an der Wurzel gepackt‘ werden kann? Im Rahmen des ANOA-Konzeptes sind ja für die Behandlung zunächst einmal nur zwei Gespräche mit jedem Patienten vorgesehen, richtig?  

Astrid Jungblut: Ja, zwei Gespräche sind im Rahmen der multimodalen Komplextherapie die Regel. Bei starker psychischer Belastung können es im Einzelfall auch mal drei bis vier Gespräche sein. Aber selbst bei zwei ausführlichen Gesprächen ist in der Schmerztherapie schon viel möglich. Manchmal ist es ja auch nur ein kleiner Anstoß, den der Mensch braucht, um Dinge anders wahrzunehmen und zu bewerten.  

Was ist Ihr Hauptanliegen im Rahmen dieser Gespräche?  

Astrid Jungblut: Unser Hauptanliegen ist es, den Patienten zu stärken und gemeinsam im Gespräch mit ihm herauszufinden: Was bedeutet der Schmerz für meinen Alltag und welchen Einfluss hat mein eigenes Verhalten auf den Schmerz? Bin ich zum Beispiel aus Angst zu vorsichtig geworden und habe durch eine permanente Schonhaltung den Schmerz weiter verstärkt? Oder beiße ich ständig die Zähne zusammen, um keine Schwäche zu zeigen, und überfordere mich dadurch permanent? So oder so – Schmerzen haben große Auswirkungen auf die emotionale Stabilität von uns Menschen. Wichtig ist es daher vor allem auch, herauszufinden, welche Faktoren möglicherweise den Schmerz aufrechterhalten. Also das System zu erkennen und anzuschauen, das hinter der Schmerzerkrankung liegt. Denn nur, wenn dieses sichtbar wird, kann ein Perspektivwechsel erfolgen und eine Veränderung eintreten.  

Können Sie hierfür konkrete Beispiele nennen?  

Astrid Jungblut: Es gibt beispielsweise Menschen mit einer Schmerzerkrankung, die aufrechterhalten wird durch die Unzufriedenheit im eigenen Beruf, dadurch, dass sie sich dort nicht am richtigen Platz fühlen. Andererseits kann es auch eine psychische Erkrankung sein, welche Schmerzen aufrechterhält oder eine ungünstige Bewältigungsstrategie. Für manche Patienten ist es beispielsweise die längerfristige Pflege von Angehörigen, die eine Überforderungssituation schafft und den Schmerz verstärkt. Wenn die dauernde Beanspruchung zu viel wird, hat der pflegende Angehörige dank des Schmerzes die Möglichkeit, aus dem System auszusteigen. Er sagt dann: ‚Ich darf das nicht mehr machen.‘ Anstatt ehrlich mitzuteilen: ‚Ich will nicht mehr.‘ Der Schmerz fungiert in solch einem Fall als rote Ampel, die das Signal setzt: ‚Stopp. Es geht nicht mehr.‘ Auch hier haben wir ganz eindeutig einen aufrechterhaltenden Faktor, der bewirkt, dass der Schmerz nicht besser werden kann. Weil er unter den gegebenen Umständen nicht besser werden darf.  

Das klingt ausgesprochen kompliziert. Wie gehen Sie vor, um so ein System zu durchbrechen? Wo setzt man da überhaupt an?  

Astrid Jungblut: Nun, hierzu muss man zunächst beachten, dass das Thema Schmerz ausgesprochen vielschichtig ist. Patientinnen und Patienten, die zu uns kommen, haben oftmals schon eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Einige haben das Vertrauen in die eigene körperliche Leistungsfähigkeit verloren, andere wiederum haben Durchhaltestrategien entwickelt, die den Schmerz oftmals weiter verstärkt haben. Und viele Menschen haben festgestellt, dass ihnen in der Vergangenheit – beispielsweise in ambulanten Behandlungen – nicht nachhaltig geholfen werden konnte. Alles in allem frustrierende Erfahrungen. Viele Schmerzpatienten fühlen sich daher nicht gesehen, sind menschlich enttäuscht und emotional verzweifelt. Diesen Patientinnen und Patienten den Blick dafür zu öffnen, dass eine Verbesserung möglich ist und Schmerzen reduziert werden können, Stück für Stück, das ist unsere Aufgabe und zugleich eine große Herausforderung.  

Eine Herausforderung die Sie wie genau bewerkstelligen?  

Astrid Jungblut: Viele Patientinnen und Patienten wollen zunächst gesehen werden, möchten ihre eigene Krankengeschichte erzählen und deutlich machen, dass sie schon vieles mitgemacht haben. An diesem Punkt ist es für uns zunächst sehr wichtig, zuzuhören. Wir besprechen dann in der Regel den Behandlungsverlauf und finden heraus, was bisher gut geklappt hat, damit das, was wohltuend war, gezielt weitergeführt wird und das, was nicht so gut war, vermieden werden kann. Unser Fokus ist es, mit unseren Patienten Schmerzbewältigungstrainings zu machen. Das heißt, wir vermitteln konkrete Werkzeuge, damit sie mit ihrem Schmerz umgehen können. Der Schmerz löst sich dadurch natürlich nicht gleich auf, aber er es kommt gewissermaßen zu einer Verschiebung: Sobald der Patient lernt, damit besser umzugehen, ist der Schmerz automatisch nicht mehr so im Fokus der Aufmerksamkeit. Dadurch ist dann letzten Endes auch das Schmerzgedächtnis nicht mehr so belastet. Das ist enorm wichtig für den Genesungsprozess.  

Eine letzte Frage: Sie sind ja nun seit zwei Jahrzehnten in der Schmerztherapie tätig. Haben Sie einen konkreten Wunsch – mit Blick in die Zukunft und auf die nächsten zehn Jahre?  

Astrid Jungblut: Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann, dass es leichter wäre, Patienten in die ambulante Weiterbehandlung zu vermitteln. Gerade im ländlichen Raum ist das zuweilen äußerst schwierig, denn das Angebot ist dort sehr dünn. Wenn es uns gelungen ist, in unseren Gesprächen einen Veränderungsprozess anzuschieben und der Patient sich geöffnet hat, bereit ist, aktiv zu werden, dann ist die Weiterbehandlung enorm wichtig. Dann ist es entscheidend, dass der Patient oder die Patientin weitere Unterstützung bekommt. – Auch außerhalb der ANOA-Klinik!  

Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Bild Copyright: ESB Stiftung

 

Kontakt

Geschäftsstelle ANOA

Lisa Gauch
Hospitalgasse 11
55430 Oberwesel // Telefon: 06744/712-156

info@anoa-kliniken.de

www.anoa-kliniken.de

 

Über ANOA

Die ANOA (Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akut-Kliniken) ist eine medizinisch-wissenschaftliche Vereinigung von mittlerweile 34 Akutkrankenhäusern, die im nicht operativen orthopädisch-unfallchirurgischen, manualmedizinischen und schmerztherapeutischen Bereich tätig sind. Patienten mit komplexen und multifaktoriellen Erkrankungen des Bewegungssystems sowie mit chronischen Schmerzerkrankungen benötigen multidisziplinäre und multimodale Diagnostik- und Therapiekonzepte. Im Mittelpunkt des ANOA-Konzeptes stehen daher individualisierte befundorientierte Behandlungen auf neuroorthopädischer Grundlage unter Einbeziehung manualmedizinisch-funktioneller, schmerzmedizinischer und psychotherapeutischer Methoden.

Die ANOA ist der Auffassung, dass nur im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung langfristig wirksame Therapiekonzepte umgesetzt werden können. Dazu hat die ANOA klinische Behandlungspfade mit besonderen Behandlungsschwerpunkten entwickelt. Das ANOA-Konzept basiert auf den neuesten medizinischen Erkenntnissen und ist wissenschaftlich überprüft. Die Prozess- und Ergebnisqualität im ANOA-Konzept wird kontinuierlich multizentrisch evaluiert. Mit dem 2016 entwickelten ANOA-Zertifikat können Kliniken ihre Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität nachweisen und sichern.

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