Interview anlässlich der Corona-Pandemie

von Lisa Gauch

„Den Weiterbetrieb der Klinik waren wir unseren Patienten schuldig“

Bild: Dr. Emmerich

Kremmen, 3. August 2020 Die Corona-Pandemie hat Deutschlands Krankenhäuser in den Ausnahmezustand versetzt: Kapazitäten für Covid-19-Patienten wurden geschaffen, planbare Behandlungen verschoben, der Regelbetrieb vielerorts über Wochen ausgesetzt. Maßnahmen, von denen auch die Krankenhäuser der ANOA (Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akut-Kliniken) betroffen waren.

Wir sprachen mit Dr. Jan Emmerich (Chefarzt der Klinik für Manuelle Medizin der Sana-Kliniken Sommerfeld und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Medizin bei der ANOA) über Folgen von Corona für seine Klinik sowie für die bundesweit tätige medizinisch-wissenschaftliche Vereinigung von mittlerweile 30 Akutkrankenhäusern, die im nicht operativen orthopädisch-unfallchirurgischen, manualmedizinischen und schmerztherapeutischen Bereich tätig sind.

Herr Dr. Emmerich, was genau waren die Herausforderungen, mit denen sich Ihre Klinik sowie die anderen 29 Kliniken der ANOA durch den Ausbruch der Corona-Pandemie konfrontiert sahen?

Das Gesundheitswesen ist ja bekanntermaßen ein komplexes und hoch effizientes System: kommt es an einer Stelle zu Störungen, hat dies Auswirkungen auf viele andere Bereiche. Sämtliche Kliniken waren von heute auf morgen angehalten, neue Erlässe zum Schutz der Patienten und des Personals umzusetzen und einzuhalten. Eine logistische Herausforderung für alle Kliniken unserer Fachgesellschaft. In einigen Häusern wurde die Anzahl von Beatmungsbetten aufgestockt, vereinzelt kam es sogar zur Umwidmung von Krankenhäusern in Corona-Kliniken.

Da es seitens des Brandenburger Gesundheitsministeriums den Beschluss gab, die Fachkliniken primär nicht in die Versorgung von Coronapatienten einzubeziehen, konnten wir in den Sana-Kliniken Sommerfeld unsere Arbeit fortsetzen. Allerdings kam es zu erheblicher Verunsicherung bei den Patienten: So wurden gerade in der Anfangsphase der Pandemie etwa vierzig Prozent der Anmeldungen zurückgezogen. Aus Sicherheitsgründen haben wir zudem die Aufnahmetermine einiger Patienten, die zu den Risikogruppen gehörten, von unserer Seite her aufgeschoben. Somit fiel die Anzahl unserer wöchentlichen Aufnahmen um mehr als ein Drittel. Durch diese Reduktion der Patientenzahl konnten allerdings wichtige Maßnahmen getroffen werden, um unsere Patienten vor einer möglichen Infektion zu schützen und gleichzeitig weiterhin den hohen Standard unserer multimodalen Komplexbehandlung, der im ANOA-Konzept festgehalten ist, aufrechtzuerhalten. Immerhin kam es in den vergangenen Monaten zu keinem Covid-19 Fall in Sommerfeld.

Dann waren die von Ihnen durchgeführten Maßnahmen offensichtlich sehr wirkungsvoll. Was genau haben Sie denn bei der Patientenversorgung verändert?

Normalerweise behandeln wir in unserer Therapieabteilung alle Patienten der Kliniken am Standort, also mehr als 400 Menschen, die sich dann sowohl in den Wartebereichen begegnen als auch in einigen der Therapien aufeinandertreffen. Um das Risiko einer Ansteckung klein zu halten, war es notwendig, die Anzahl der Begegnungen auf ein Minimum zu reduzieren. Dazu haben wir unsere Patienten stationsweise in Kohorten – oder anders gesagt Familien –  aufgeteilt, jeweils mit einer festen Zuordnung von Ärzten, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten und Pflegepersonal.

Dann gab es doch sicherlich Platzprobleme auf Ihren Stationen?

Richtig. Wir brauchten zusätzliche Behandlungsräume. Um diese zu schaffen, wurden freie Patientenzimmer umfunktioniert. Das für eine befundgerechte Therapie notwendige breite therapeutische Spektrum konnten wir dadurch aufrechterhalten, dass wir zum Beispiel einige Behandlungen wie unsere Trainingstherapie nach draußen verlagert haben. Alles in allem war Kreativität gefragt: So haben wir Teile unserer Patientenedukation als Videos produziert und zusätzlich in unseren Patienten-Infokanal eingespeist. Als weitere Maßnahmen haben wir 3-Bett-Zimmer zu 2-Bett-Zimmern umgewidmet, unsere Cafeteria geschlossen, die Essensversorgung in den Patientenzimmern ermöglicht und Besuche nicht mehr zugelassen. Zeitweise führten wir bei jedem Patienten, der neu aufgenommen wurde, aus Sicherheitsgründen einmalig einen Test auf COVID-19 durch.

Das klingt nach einer großen logistischen Herausforderung für Ihre Klinik. Wäre eine Schließung während der Corona-Pandemie nicht einfacher gewesen?

Einfacher vielleicht, aber keinesfalls eine Option. Chronische Schmerzerkrankungen am Bewegungssystem sind zwar nicht lebensbedrohlich, aber sie haben eine hohe Relevanz für die Betroffenen. Der Leidensdruck ist enorm und die Behandlungsnotwendigkeit bleibt natürlich bestehen, unabhängig davon, dass in der Welt Coronaviren unterwegs sind. Unsere Arbeit am Patienten ist systemrelevant, daher stand es für uns immer außer Frage, die Behandlungen fortzusetzen. Anders gesagt: Den Weiterbetrieb der Klinik waren wir unseren Patienten schuldig. Wie richtig diese Entscheidung war, zeigen im Übrigen auch die aktuellen Entwicklungen: Wir erleben in diesen Tagen einen wahren Ansturm von Patienten, die ihre Behandlung nachholen wollen. Die Warteliste liegt jetzt bei elf Monaten und wir bemühen uns nach Kräften, Akutpatienten zügig aufzunehmen und auch alle anderen wartenden Patienten schnellstmöglich zu behandeln. Doch unter den aktuellen Gegebenheiten müssen wir das Kohorten-Prinzip vorerst aufrechterhalten. Somit werden wir auch in absehbarer Zukunft noch nicht die Vor-Corona-Kapazitäten erreichen können.

War und ist die wirtschaftliche Effizienz Ihrer Klinik unter diesen Umständen denn überhaupt gewährleistet?

Dazu vertrete ich einen ganz klaren Standpunkt: Die Erwirtschaftung von Erträgen in der Medizin darf auch in diesen Zeiten nicht die erste Priorität haben. Es liegt auf der Hand, dass wir zurzeit nicht so effizient arbeiten können wie früher. Dazu müssten wir zum Beispiel sämtliche Zimmer vollständig belegen können. Glücklicherweise hat uns der Krankenhausrettungsschirm in dieser schwierigen Phase geholfen, den erhöhten Aufwand aufzufangen. Wir haben ihn dort genutzt, wo es zur Kompensation von Ausfällen notwendig war. Aber ich möchte nochmals wiederholen: Priorität war es auch während der Corona-Pandemie, unsere Patienten zu behandeln. Natürlich durften wir auch kein Personal verlieren. Das wäre in dieser Situation kontraproduktiv gewesen: Schließlich hat sich der Personalaufwand bedingt durch unser Kohorten-System deutlich erhöht. Da sich der Rettungsschirm verändern wird, erwarten wir in den nächsten Monaten allerdings einen steigenden finanziellen Druck durch die Zunahme der Ausfälle.
Zu Gute kam uns im den letzten Wochen, dass der MDK im Zuge der Pandemie die Prüfquote von 12,5 Prozent auf fünf Prozent reduziert hat. Dadurch wurden wir von einem Teil der Bürokratie entlastet und konnten unser medizinisches Personal für erforderliche medizinische Tätigkeiten einsetzen.

Dann konnten Sie ja die Krise der vergangenen Wochen und Monate den Umständen entsprechend gut bewältigen. Wie blicken Sie und wie blickt die ANOA in die Zukunft?

Ich für meinen Teil bin optimistisch gestimmt. Die schlimmste Phase ist jetzt erst einmal vorbei und wir konnten in den Sana-Kliniken Sommerfeld einige der Sicherheitsmaßnahmen nach und nach lockern. Die Infektionszahlen in unserem Einzugsgebiet sind sehr niedrig. Natürlich bleiben wir wachsam, damit der Schutz unserer Patienten und unseres Personals jederzeit weiterhin gewährleistet ist. In den anderen ANOA Kliniken wird, wie ich weiß, ebenso verfahren. Parallel zu meinen Aufgaben in der Klinik merke ich jetzt im Übrigen auch, dass die Arbeit bei der ANOA, bei der ich im Beirat und als Leiter der AG Medizin tätig bin, wieder enorm an Fahrt gewinnt. Ganz oben auf unserer Agenda stehen die weitere Arbeit an unserem Konzept sowie die Erarbeitung und bundesweite Verbreitung unseres neuen Dokumentationsleitfadens. Außerdem sind die anstehenden Strukturprüfungen des Medizinischen Dienstes vorzubereiten, um die solide Basis für unsere weitere Arbeit zu erhalten.

Das klingt jetzt ein Stückweit nach „back to normal“, was ja ein Zustand ist, den wir uns alle wünschen. Eine abschließende Frage: Die vergangenen Monate haben Leitung und Personal Ihrer Klinik und der anderen 29 ANOA Häuser stark gefordert. Gibt es auch etwas Positives, was Sie dieser Krise im Gesundheitssystem abgewinnen können?

In jedem Fall, schließlich hat eine Medaille immer zwei Seiten. Wir haben festgesellt, dass es allen Berufsgruppen in unseren interdisziplinären Teams – vom Arzt über den Psychologen bis hin zum Therapeuten – gelungen ist, unter den besonderen Anforderungen während der Pandemie und vor allem bedingt durch die kleineren Gruppen noch gezielter auf die Befunde der Patienten einzugehen und dabei das ANOA-Konzept optimal umzusetzen. Eine Entwicklung, die in der Konsequenz unseren bereits sehr guten Zusammenhalt in der Klinik noch weiter gestärkt hat. In der Folge waren auch die Rückmeldungen von unseren Patienten ganz besonders positiv. So wurde die verstärkte individuelle Zuwendung von nahezu allen Patienten anerkannt und außerordentlich wertgeschätzt. Diesem hohen Anspruch wollen wir, auch wenn Corona irgendwann Geschichte ist, weiterhin gerecht werden.

Sehr dankbar bin ich für die hervorragende, engagierte und konstruktive Zusammenarbeit der Mitarbeiter aller medizinischen Berufsgruppen, der Geschäftsführung und der technischen Bereiche unserer Klinik, welche diese großen Veränderungen in kürzester Zeit erst möglich gemacht haben.

Besten Dank für das Gespräch!

Kontakt
Pressebüro ANOA

Geschäftsstelle ANOA
Lisa Gauch
Hospitalgasse 11
55430 Oberwesel // Telefon: 06744/712-156

info@anoa-kliniken.de
www.anoa-kliniken.de

Über ANOA
Die ANOA (Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akut-Kliniken) ist eine medizinisch-wissenschaftliche Vereinigung von mittlerweile 30 Akutkrankenhäusern, die im nicht operativen orthopädisch-unfallchirurgischen, manualmedizinischen und schmerztherapeutischen Bereich tätig sind. Patienten mit komplexen und multifaktoriellen Erkrankungen des Bewegungssystems sowie mit chronischen Schmerzerkrankungen benötigen multidisziplinäre und multimodale Diagnostik- und Therapiekonzepte. Im Mittelpunkt des ANOA-Konzeptes stehen daher individualisierte befundorientierte Behandlungen auf neuroorthopädischer Grundlage unter Einbeziehung manualmedizinisch-funktioneller, schmerzmedizinischer und psychotherapeutischer Methoden.

Die ANOA ist der Auffassung, dass nur im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung langfristig wirksame Therapiekonzepte umgesetzt werden können. Dazu hat die ANOA klinische Behandlungspfade mit besonderen Behandlungsschwerpunkten entwickelt. Das ANOA Konzept basiert auf den neuesten medizinischen Erkenntnissen und ist wissenschaftlich überprüft. Die Prozess- und Ergebnisqualität im ANOA Konzept wird kontinuierlich multizentrisch evaluiert. Mit dem 2016 entwickelten ANOA-Zertifikat können Kliniken ihre Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität nachweisen und sichern.

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