Neuer Trend zum Home Office

von Lisa Gauch

„Für den Rücken eine Katastrophe“

ANOA-Präsident Dr. Jan Holger Holtschmit hat mit seinem Team in den vergangenen Jahren rund 40.000 Patienten mit Rückenschmerzen behandelt. Im Zuge der Pandemie prognostiziert er eine starke Zunahme an Wirbelsäulenerkrankungen.

Die Corona Pandemie hat den Büro-Alltag in den vergangenen sechs Monaten grundlegend verändert: Das Home Office wird – wie aktuelle Umfragen zeigen –  mehr und mehr zum gängigen Arbeitsmodell. Vor- und Nachteile der Arbeit vom heimischen Schreibtisch aus werden seitdem in Deutschland intensiv diskutiert. Doch ein Aspekt fehlt bislang in der aktuellen Debatte: der gesundheitliche Fokus. „Für den Rücken ist der neue Trend zum Arbeiten von zu Hause aus eine Katastrophe“, sagt Dr. Jan Holger Holtschmit, Präsident der ANOA (Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akut-Kliniken) und Chefarzt Konservative Orthopädie im Marienhauskrankenhaus St. Wendel. Wir sprachen mit dem Mediziner über die Schattenseiten von Home Office in Zeiten von Corona.

Herr Dr. Holtschmit, einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Münchner Ifo-Instituts zufolge will mehr als jedes zweite Unternehmen in Deutschland seine Beschäftigten auch in Zukunft verstärkt von zu Hause arbeiten lassen. Eigentlich doch eine gute Nachricht für die Angestellten, oder?

Holtschmit: Auf den ersten Blick sicherlich, schließlich bringt Home Office für die Beschäftigten in vielen Fällen Vorteile mit sich – man spart sich den Arbeitsweg, hat zu Hause meist ein ruhigeres Arbeitsumfeld und alles in allem größere Flexibilität. Verheerend werden jedoch die Auswirkungen sein, mit denen sich unser Gesundheitssystem schon bald auseinandersetzen muss, wenn das Arbeiten von zu Hause aus weiter so leichtfertig angegangen wird: mehr und mehr Büroangestellte klagen schon heute über heftige Rückenschmerzen. Nicht mehr lange und die Chronifizierungenhäufen sich. Dann landen die Patienten bei uns in den Kliniken und die Anzahl der Krankentage steigt.Letzten Endes sind das dann keine guten Nachrichten. Weder für die Angestellten noch für den Arbeitgeber.

Sie sagten gerade, Home Office würde im Grundsatz zu „leichtfertig angegangen“, was genau meinen Sie damit?

Holtschmit: Schon jetzt sind Rückenbeschwerden bei uns in Deutschland der häufigste Grund für krankheitsbedingte Ausfälle im Job. Das sollte die Arbeitgeber doch hellhörig machen. Tut es aber nicht. Zugegebenermaßen ist unsere Gesellschaft mit dem Ausbruch von Corona buchstäblich ins Home Office – oder korrekt ausgedrückt ins ‚mobile Arbeiten’ –reingeschlittert. Damals konnten allenichts Anderes tun, als bestmöglich ihren Job zu machen. Nur eben von zu Hause aus, also den Umständen entsprechend: Am Küchentisch auf einem wackligen Stuhl oder am antiken Schreibtisch, an dem kein Mensch über längere Zeit bequem sitzen kann.

Klingt nicht gerade nach einer guten langfristigen Lösung ...

Holtschmit: Richtig! Doch darüber wird im gesellschaftlichen Kontext überhaupt nicht gesprochen. Ganz im Gegenteil: Inzwischen ist Home Office zum Trend geworden, wird geradezu glorifiziert. Damit dieses Modell auch längerfristig gut funktioniert, haben viele Firmen in Technik – wie Laptops oder bessere Internetzugänge investiert. Kaum ein Arbeitsgeber macht sich jedoch ernsthaft Gedanken um die Gesundheit seiner Mitarbeiter. Wie kann ich für meine Beschäftigten ein Arbeiten unter arbeitsmedizinisch-ergonomischen Gesichtspunkten garantieren? Das sollte die Frage sein, die sich jetzt alle stellen müssten.

Ein schöner Paradigmenwechsel. Wie lässt sich dieser Gedanke praktisch umsetzen?

Holtschmit: In nahezu jedem Unternehmen gibt es heute einen Datenschutzbeauftragten, einen Gleichstellungsbeauftragten oder einen Erste Hilfe Verantwortlichen. Warum nicht auch einen Home Office-Experten? Dieser könnte Sorge tragen, dass der häusliche Arbeitsplatz jedes Mitarbeiters wirbelsäulenergonomisch ausgerichtet ist, damit bei der regelmäßigen Arbeit von zu Hause kein gesundheitlicher Schaden entsteht. Der wesentliche Punkt ist schließlich: Wenn Beschäftige viel Zeit am Schreibtisch verbringen, wird die Wirbelsäule stark in Anspruch genommen. Und unser gesamter Bewegungsapparat, vor allem unsere Wirbelsäule, reagiert sehr schnell auf Fehlbelastungen.

Gut zu wissen. Wenn ich also nicht nur einmal im Monat Home Office mache, sondern täglich zu Hause am Schreibtisch sitze, was sollte ich dann beachten?

Holtschmit: Stuhl, Tisch, die Tastatur und der Bildschirm sollten an die eigene Körpergröße angepasst bzw. optimal ausgerichtet sein. Empfehlenswert ist dabei beispielsweise ein Stuhl, dessen Sitzfläche leicht nach vorne gebeugt ist. Dadurch ist garantiert, dass unsere Knie nicht stärker als neunzig Grad gebeugt werden. Eine Entlastung für die Muskulatur. Abgesehen davon spielen natürlich auch Beleuchtung, Belüftung und Temperatur eine Rolle für das entspannte, produktive und langfristig ‚gesunde’ Arbeiten. Und natürlich die Bewegung zwischendurch. Zur Entlastung des Rückens ist es wichtig, mindestens einmal pro Stunde aufzustehen, selbst wenn es keine Notwendigkeit dafür gibt. Viele Berufstätige wissen das instinktiv und gehen im Büro deshalb öfter zum Drucker oder zur Kaffeemaschine. Im Home Office bietet es sich an, zwischendurch mal die Wäsche aufzuhängen oder aufzuräumen. Je mehr Bewegung zwischendurch desto besser. Denn so können nach einem langen Tag am Schreibtisch Verspannungen oder auch Schmerzen im Nackenbereich oftmals vermieden werden.

Bewegen wir uns denn gerade in Corona-Zeiten grundsätzlich genug? Der Lockdown und die strengen Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen nach dem 22. März haben ja nicht gerade dazu geführt, dass unsere Gesellschaft mehr Sport getrieben hätte ...

Holtschmit: Leider wahr. Aktuell habe ich viele Patienten in meiner Schmerz-Sprechstunde, die bis zu den Ausgangsbeschränkungen mit ihrem individuellen Trainingsprogramm immer recht gut klargekommen sind und ihre Schmerzen am Bewegungsapparat damit kompensieren konnten. Doch dann waren Fitnesscenter und Schwimmbäder mehrere Monate lang geschlossen. Später bestand bei einigen die Sorge, sich beim Gruppensport anzustecken. Daher wurde und wird in vielen Fällen nach wie vor auf das für das Bewegungssystem so wichtige Training verzichtet. Zusammengefasst heißt das: Im Zuge der Corona-Pandemie machen viele Menschen weniger Workout, es wird oftmals an einem Ort gearbeitet, der nicht wirbelsäulenergonomisch eingerichtet ist und der tägliche Spaziergang zum Beispiel vom Bus zum Job und zurück fällt weg. In der Folge leiden mehr und mehr Beschäftigte unter starken Rückenbeschwerden. In meiner Sprechstunde betrifft dies mittlerweile jeden zweiten Patienten.

Ihr Zusammenschluss von 30 Kliniken, hat sich – wie auf Ihrer Homepage nachzulesen ist –  auf stationäre nichtoperative Komplexbehandlungen multifaktorieller Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems spezialisiert. In anderen Worten: Patienten mit chronischen Rückenbeschwerden werden in den ANOA-Kliniken von multiprofessionellen Teams in individuell für sie konzipierten nichtoperativen Therapieverfahren behandelt. In Zeiten von Corona und dem Trend zum Home Office erleben Ihre Kliniken sicherlich eine besonders hohe Nachfrage ...

Holtschmit: In der Tat ist die Nachfrage nach einer Behandlung in nahezu allen ANOA-Kliniken sehr hoch. In vielen Kliniken gibt es sogar längere Wartelisten. Ein Sachverhalt, der sich übrigens auch schon vor den pandemiebedingten Auswirkungen abgezeichnet hat. Zum Thema Home Office dahernochmals ein abschließender Satz: ich betrachte die Entwicklungen als eine gesamtgesellschaftliche Gefahr. Aus diesem Grund ist es mir sehr wichtig, die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, das Thema zukünftig anders anzugehen.

Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Dr. Jan Holger Holtschmit
Dr. Jan Holger Holtschmit (53) ist seit November 2019 Präsident der ANOA (Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer Akut-Kliniken). Zuvor (2015 bis 2019) war er für den Klinikverbund von mittlerweile 30 Akutkrankenhäusern als Vizepräsident tätig.

Der Mediziner arbeitet zudem als Chefarzt der Abteilung für Konservative Orthopädie am Marienkrankenhaus St. Wendel. Die Abteilung war im April 2020 von der Marienhausklinik St. Josef in Losheim am See nach St. Wendel umgezogen. In der Marienhausklinik St. Josef in Losheim am See war Holtschmit seit 2002 als Chefarzt der Abteilung für Konservative Orthopädie tätig, seit 2015 zudem als Ärztlicher Direktor.

Rund 40.000 Patienten mit Rückenbeschwerden hat der Mediziner in seiner langjährigen Karriere mit seinem Klinik-Team behandelt. Sein Schwerpunkt: die Diagnostik und nicht-operative Behandlung degenerativer und rheumatologischer Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Osteologie, die spezielle Schmerztherapie und die Sportmedizin.

In der akutmedizinischen Abteilung für Konservative Orthopädie in St. Wendel werden vor allem chronifizierungs-gefährdete und chronische Patienten behandelt, die mit ihren Beschwerden oft schon einen langen Leidensweg hinter sich haben.

Ein weiteres Interessengebiet von Jan Holger Holtschmit ist das Therapeutische Reiten. Er ist Präsident des größten Verbandes der Welt für Therapeutisches Reiten, des DKThR. Sportmedizinisch kümmert er sich besonders um Reiter. Er war langjähriges Mitglied des Medical Committees des Weltreiterverbandes FEI. Zuletzt war Dr. Holtschmit für die FEI bei den Paralympics in Rio de Janeiro unterwegs und wird auch bei den Paralympics 2021 in Tokio wieder dabei sein.

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